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Vor 67 Jahren wurden ganze Familien verschleppt

Am heutigen Jahrestag der Deportation nach Gurs erinnert ein Gruppenbild an die ehemalige jüdische Gemeinde Weinheims

Heute jährt sich zum 67. Mal der Tag, an dem mit der berüchtigten Wagner-Bürckel-Aktion über 6.500 badische und pfälzische Juden nach Gurs verschleppt wurden. Die Deportation aus der Heimat traf sie völlig unvorbereitet und wenn zuvor schon von sterbenden Gemeinden gesprochen werden musste, so gab es nach dem 22. Oktober 1940 keine jüdischen Gemeinden mehr in Baden, das nach den zynischen Worten seines Gauleiters Robert Wagner am Abend dieses Tages „judenfrei” war.

Die Deportation der letzten Weinheimer Juden löschte eine jüdische Gemeinde aus, der man nachsagt, sie sei einst eine blühende, in sich lebendige und mit ihren Mitbürgern im Einvernehmen lebende Gemeinde gewesen. Die 1906 unter lebhafter Anteilnahme der Bevölkerung an der Bürgermeister-Ehret-Straße eingeweihte Synagoge war der Mittelpunkt der Gemeinde, in der es einen Krankenunterstützungsverein, einen Sterbekassenverein, einen Frauenverein, einen Synagogenchorverein und die 1848 von Daitge Traut begründete „Maier-Traut-Stiftung” zur Unterstützung armer Israeliten gab.

Eine große Familie …

Zwischen den jüdischen Familien bestanden enge Bindungen. „Die Gemeinde war eine einzige große Familie”, erinnert sich Margot Seewi noch heute gern daran und wie zum Beweis für dieses Empfinden überließ sie uns jetzt Fotografien, die auch aus christlichen Familienalben stammen könnten: Bilder mit stolzen Eltern und Großeltern, von glücklichen Familienfesten und mit Jugendgruppen, die sich nach dem Religionsunterricht zum Spielnachmittag zusammenfanden. Es sind Momentaufnahmen aus einer Zeit, als noch niemand ahnte, wie brutal diesen Mädchen und Buben ihre Kindheit genommen werden würde.

… und ihre Bilder

Margot Seewi, geborene Rapp, Enkelin im Kaufhaus Heil (heute Commerzbank), hat die alten Fotos von emigrierten Verwandten und von Bekannten ihrer Familie nach dem Ende des 2. Weltkriegs und bei ihrer Rückkehr nach Deutschland erhalten. Sie hatte Weinheim als Dreizehnjährige Ende 1939 mit einem der von England aus organisierten Kindertransporte verlassen können, aber ihre Familie zurücklassen müssen, die dann zehn Monate später nach Gurs und in den Tod deportiert wurde. Das Gruppenbild mit Religionslehrer Siegbert Silbermann dürfte 1934/1935 entstanden sein. Es zeigt fröhliche Kinder, die noch unbetroffen scheinen von den ersten antijüdischen Aktionen in Weinheim.

Nur Lore blieb zurück

Vielleicht waren das die letzten glücklichen Tage, die die jüdischen Kinder zusammen erlebten, denn schon bald verließen die ersten jüdischen Familien Weinheim, andere folgten nach der Reichspogromnacht 1938 oder mit den Kindertransporten 1939. Zurück in Weinheim blieb aus dieser Jugendgruppe allein Lore Eckstein und sie wurde am 22. Oktober 1940 ein Opfer der Wagner-Bürckel-Aktion: am 10. August 1942 wurde sie, zusammen mit ihren Eltern Albert und Felicitas Eckstein, aus Gurs über Drancy nach Auschwitz transportiert, eine Woche nach ihrem 21. Geburtstag. Nur ihr Name auf der Transportliste erinnert an sie und die Briefe, die sie aus dem Lager Gurs an ihren Bruder Martin ins französische Kinderheim schrieb, in dem er überleben durfte.

Lehrer Siegbert Silbermann wohnte im Hause Rothschild (Kaufhaus Jacob Rothschild, heute Modehaus Zeumer) bei den Schwestern Sophia und Pauline Rothschild. Mehr ist von ihm nicht bekannt und auch die Annahme lässt sich nicht belegen, dass er als Religionslehrer und Kantor der israelitischen Gemeinde Weinheim der Amtsnachfolger von Marx Maier war, der 1932 starb, und der Amtsvorgänger von Artur Auerbacher, der 1934 nach Weinheim kam.

Aus bekannten Familien

Es sind Kinder aus bekannten jüdischen Familien, die den Religionslehrer umgeben. Links von ihm steht Hans David Hirsch, jüngster Sohn des Müllemer Metzgermeisters Hermann Hirsch. Er emigrierte 1939 nach Palästina. Seine Mutter Betty und seine Schwester [P157]Recha wurden über Gurs nach Auschwitz gebracht. Rechts von Silbermann ahnt Lore Eckstein noch nichts von ihrem schrecklichen Schicksal. Neben ihr steht Heinz Günzburger, von dem leider nichts bekannt ist (Anm. siehe Artikel In Hemsbach kannte man die Familie Günzburger).

Echte „Woinemer Buwe” bilden die mittlere Reihe. Erwin Neu entstammte einer seit Generationen im Häute- und Lederhandel tätigen Familie. Sein Vater war der SPD-Stadtrat Sally Neu. Die Familie wohnte in der Schulstraße, verließ aber 1937 Weinheim und Deutschland: Erwin nach Brasilien, die Eltern nach Uruguay, Schwester Hilda nach Südafrika und Schwester Ellen nach Brasilien.

Lothar Marx kam aus dem Kurzwaren- und Möbelgeschäft Marx an der unteren Hauptstraße. Seine Eltern Salomon und Theresia Marx starben in Auschwitz, er selbst konnte 1938 in die USA ausreisen.

Neben Marx steht Simon Werner Kassel. Seine Eltern Theodor (gestorben 1937, beerdigt in Hemsbach) und Berta (Gurs entronnen, aber in Frankfurt umgekommen) betrieben beim „Badischen Hof” (heute Tourismusbüro) das angesehene Lederwaren-Fachgeschäft Kassel & Marx. Werner Kassel kam 1938 mit einem der ersten Kindertransporte nach England und anglisierte später seinen Geburtsnamen in Cassel.

Beliebte Ärzte

Sein Nachbar im Gruppenbild ist Hermann Reiß. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Klaus und den Eltern Dr. Friedrich Reiß und Herta Reiß emigrierte er Ende 1935 nach Palästina. Seine Mutter war die Tochter des sehr populären Arztes Dr. Hermann Hausmann, der in der Erinnerung vieler Weinheimer „Frohsinn in jedes Krankenzimmer brachte”. Die Praxis übernahm nach Hausmanns Tod 1923 sein Schwiegersohn Dr. Friedrich Reiß. Vor dem Haus in der Bahnhofstraße (heute Geiß’sche Apotheke) bauten sich beim nationalsozialistischen „Boykott-Tag” am 1. April 1933 SA-Leute mit dem Plakatschild „Die Juden sind unser Unglück” auf.

Ganz rechts in der mittleren Reihe steht Heinz Ferdinand Rothschild. Er entstammte einer der ältesten und bedeutendsten jüdischen Familien Weinheims. Sein Vater Hugo führte das weit über Weinheim hinaus bekannte Kaufhaus Gebrüder Rothschild (heute Optik Fielmann) bis zur polizeilichen Schließung nach dem November-Pogrom 1938. Heinz Rothschild emigrierte 1939 nach Kuba, seine Eltern Hugo und Fanny Rothschild zogen 1939 nach Mannheim, wähnten sich dort sicher, wurden aber am 22. Oktober 1940 verhaftet und nach Gurs gebracht. 1941 konnten sie sich, wie wenige andere, freikaufen und durften nach San Francisco ausreisen.

Unterschiedliche Lebenswege

Die Jüngsten standen bei der Gruppenaufnahme vorne. Margot Rapp, der wir dieses Bild verdanken, verlor ihre Eltern Friedrich und Tilly Rapp und ihre Großmutter Recha Heil in Auschwitz und Gurs. Mit einem der letzten Kindertransporte kam sie zu Jahresbeginn 1940 nach Palästina, lebte im Kibbuz, schloss sich 1945 dem Palmach an, der israelischen Untergrundarmee, erlebte im Negev die Geburt des Staates Israel, wurde nun in die reguläre Armee übernommen, heiratete den Berliner David Seewi und lebt heute in Köln.

Ihre Bildnachbarn sind Klaus Reiß, der jüngste Sohn von Dr. Reiß, Johanna (Hannele) Kassel, Schwester von Werner Kassel, die 1939 nach Palästina auswanderte, und Hannelore Friedhaber. Sie war die Tochter von Salomon Friedhaber und Hedwig Friedhaber, geb. Löb, die ein Etagengeschäft von Kleidern, Wäsche und Aussteuer betrieben, zuerst in der Hildastraße, dann in der Hauptstraße. 1936 wanderte die Familie nach Kolumbien aus, Hannelore Friedhaber heiratete den Leipziger Heinz Gembitz und lebt seit 1962 in Israel.

Rückkehr nach Weinheim

Margot Seewi-Rapp hat an beiden Heimattreffen ehemaliger jüdischer Mitbürger 1974 und 1991 in Weinheim teilgenommen. Erwin Neu, Hannelore Gembitz-Friedhaber, Hanna Katz-Kassel und Werner Simon Cassel kamen 1991 in die Heimatstadt und trafen in einer Gesprächsrunde auf interessiert lauschende Zehntklässler aus dem Werner-Heisenberg-Gymnasium. Hannelore Gembitz sagte ihnen am Ende der ebenso eindrucksvollen wie beklemmenden Gespräche: „Es wird für die Zukunft Deutschlands und damit Europas entscheidend sein, dass die deutsche Jugend frei und vorurteilslos denkt!”

Verfasser: Heinz Keller,

veröffentlicht in: "Weinheimer Nachrichten" vom 22.10.2007

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