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Auch die Hirsch-Kinder waren Müllemer Kinder

Daniel Horschs Erinnerungen an die Nachbarn in der Müllheimer Talstraße, die eines Tages nicht mehr da waren

Im Müll, Weinheims östlicher Vorstadt, lebten in den 20-er Jahren des letzten Jahrhunderts viele Fabrikarbeiter, die mit jedem Pfennig rechnen mussten, weil der Lohn meist bescheiden, die Kinderzahl aber groß war. Manchmal nutzte indes auch größte Sparsamkeit nichts und da blieb den Hausfrauen und Müttern nichts anderes übrig, als anschreiben zu lassen. Da war es wichtig, dass der Geschäftsinhaber wusste: bei der nächsten Lohnzahlung bekomme ich mein Geld. Einer dieser Geschäftsinhaber war der Metzger Hermann Hirsch. Er kannte die Menschen, die im Müll, im Betental und bis hinaus zur Gabelsbergerstraße lebten, und er wusste genau, wem er seine Fleisch- und Wurstwaren „auf Vorschuss” geben konnte. Es gibt heute noch alte Weinheimer, die dieses vertrauensvolle Verhältnis in ihrer Familie erlebt haben.

Zwei Brüder, zwei Schwestern

Daniel Horsch, Autor der historischen Schrift „Sie waren unsere Bürger” und selbst Müllemer Kind, hat 1989 seine Erinnerungen an die Nachbarn Hirsch niedergeschrieben, die 1940 Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns wurden. Er zeichnete dabei das Bild zweier unterschiedlicher Brüder, die zwei unterschiedliche Schwestern geheiratet hatten: den vom Rheuma gezeichneten und manchmal mürrischen Hermann Hirsch, der mit seiner Familie im stattlichen Vorderhaus des Anwesens Müllheimer Talstraße 24 wohnte und eine Metzgerei betrieb, und den eleganten Raphael Hirsch, der sich Rudolf nannte, im stilvollen Hinterhaus lebte und als Immobilienmakler erfolgreich war. „Von Rudolf Hirsch war ich als Kind besonders angetan – er wirkte immer vornehm, trug schöne braune Anzüge, Krawatten von erlesenem Geschmack und weiße Hemden”. Vorübergehend betrieb Rudolf Hirsch im Nachbarhaus ein Textilwarengeschäft neben seinem Maklerbüro. Auch seine Frau Rosa wirkte nach Horschs Erinnerungen „in Kleidung und Art sehr vornehm”, suchte aber bei jeder Gelegenheit das Gespräch mit den Nachbarn. Die Ehe von Rudolf und Rosa Hirsch blieb kinderlos.

Müllemer Kinder

Die Schwestern Betty und Rosa Herzog, 1879 und 1883 in Menzingen im Kreis Bretten geboren, hatten 1907 und 1908 die Brüder Hermann und Raphael/Rudolf Hirsch geheiratet. Betty und Hermann Hirsch hatten fünf Kinder: Bella Elsa, Rosa, Recha Martha, Charlotte und Hans David. Die kleine Rosa wurde allerdings nur fünf Monate alt.

Mit am Tisch saß auch Irma, Hermann Hirschs Tochter aus erster Ehe. Sie war in der Kinderschar, die „uff de Gass” oder „ins Hersche Houf” spielte und tobte, die Älteste. Der zehn Jahre jüngere Nachbarsbub Daniel scheint sie verehrt zu haben. Es imponierte ihm, dass ihr Haar zu einem modernen Bubikopf geschnitten war, dass sie die Welt aus „schwarzen Kirschenaugen” ansah, die ihre Stiefschwestern nicht hatten, und dass sie rauchte! Irma belohnte ihren kleinen Verehrer für den Kauf einzelner Zigaretten – das war damals möglich – mit einem großen Stück Wurst aus dem väterlichen Geschäft. Eine besondere Wurstportion bekam Daniel auch von Hermann Hirsch, wenn er für das Pferdchen, das den Metzgerkarren zog, Futter besorgte.

Bella Elsa, genannt Else, war die Älteste unter den Hirsch-Kindern aus der Ehe Hermanns mit Betty Herzog, die Daniel Horsch als Frau schilderte, die weniger Wert auf ihr Äußeres legte als ihre Stiefschwester Irma. Bella Elsa sei ein offenes, gern lachendes, schlagfertiges Mädchen gewesen, immer für einen Spaß zu haben. Ganz anders waren wohl Martha und Charlotte/Lotte Hirsch: hübsch, zurückhaltend, fast ein bisschen introvertiert beide und ohne große Begeisterung für die Spiele, die von den Weinheimer Kindern damals gespielt wurden.

Daniel Horschs Erinnerungen an seine Müllemer Kindheit und Jugend enden 1930 mit seinem Wegzug aus Weinheim. Im gleichen Jahr zog die inzwischen 25-jährige Irma Hirsch nach Stuttgart. 1938 emigrierte sie in die USA und lebte mit ihrem Mann Henry Mayer in Kalifornien.

Unehelich und jüdisch

Am 12. Juni 1933, vier Tage vor ihrem 23. Geburtstag, brachte Recha Martha ein kleines Mädchen zur Welt und nannte es Doris. In der Geburtsurkunde bekannte sich der 22-jährige Bruchsaler Tabakkaufmann Friedrich Metzger zur Vaterschaft, heiratete das jüdische Mädchen aber nicht. Martha hatte die Schwangerschaft vor ihrem strengen Vater wohl mit Erfolg verheimlicht, indem sie wenig aß und ihren Körper einschnürte. Als Doris nun, untergewichtig, zur Welt gekommen war, reagierte Hermann Hirsch „auf die Schande” mit dem Rauswurf seiner Tochter. Onkel Rudolf und Tante Rosa gaben der jungen Mutter und ihrem Kind im Hinterhaus Müllheimer Talstraße 24 ein neues Zuhause und kümmerten sich rührend um die Beiden – bis zu jenem schicksalhaften 22. Oktober 1940, als alle Hirschs „unbekannt abgeschoben” wurden.

Fünf Monate zuvor, am 1. Mai 1940, hatte Charlotte Hirsch in Ludwigshafen Arthur Kirschbaum geheiratet. Auch sie stand im Oktober 1940 auf der Deportationsliste: die berüchtigte „Bürckel-Wagner-Aktion”, mit der 6.538 deutsche Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland verschleppt wurden, bedeutete auch für die 28-Jährige den Todesweg über Gurs nach Auschwitz.

Nicht weit genug weggelaufen

Hans David Hirsch, der Jüngste, begann im märkischen Eberswalde ein landwirtschaftliches Praktikum, wanderte aber schon 1938 nach Brüssel aus – „nicht weit genug”, wie er 1983 in einem Brief an Weinheims Oberbürgermeister Theo Gießelmann schrieb. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien wurde Hans Hirsch am 10. Mai 1940 verhaftet und bis 1945 in verschiedenen Konzentrationslagern festgehalten. Mit der Nummer A 5580 am linken Arm wurde er im April 1945 in Buchenwald befreit. Hans Hirsch nannte sich fortan Henry und lebte mit seiner Frau in Las Vegas.

Der Leidensweg der kleinen Doris Hirsch ist das Thema des nächsten Beitrags.

Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachrichten" vom 05.06.2007

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