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Auf einen Schlag kein Kind mehr

Reichspogromnacht: Die heute 81-jährige Margot Seewi erinnert sich an den 10. November 1938 in Weinheim

Ihre Schulzeit am Weinheimer Realgymnasium, das sich seit 1937 auf Anordnung des badischen Kultusministers Benderschule nannte, dauerte nur rund zweieinhalb Jahre: Sexta, Quinta, halbe Quarta.

An ihren ersten Schultag kann sich Margot Seewi (81) nicht mehr erinnern, an den letzten auch nur deshalb, weil es der 9. November 1938 war, der Tag vor jenem 10. November 1938, der unter dem verharmlosenden Begriff der „Reichskristallnacht” in die Geschichte eingegangen ist. Dieser Tag, an dem nach der späteren Bilanz des Obersten Parteigerichts der NSDAP 91 Juden, zumeist Geschäftsleute, getötet wurden, 29 jüdische Warenhäuser durch Feuer vernichtet, 171 Wohnhäuser und 101 Synagogen zerstört oder abgebrannt und 7.500 jüdische Geschäfte verwüstet wurden, hat sich tief ins Gedächtnis der damals Zwölfjährigen eingebrannt. Denn er beendete eine Kindheit in Weinheim, die Margot Seewi bis heute „in sonniger und glücklicher Erinnerung” hat.

Am Morgen des 10. November 1938 war diese schöne Kindheit nach der Sprengung der Synagoge an der Ehretstraße in des Wortes wahrster Bedeutung „schlagartig” vorbei. Margot Seewi: „In den frühen Morgenstunden wurde mein Vater von SA-Leuten abgeholt und wie alle jüdischen Männer Weinheims ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Als ich später zur gewohnten Zeit in die Schule gehen wollte, den „Großen Dierke” zwischen Ranzen und Rücken geschnallt, weil wir Erdkunde bei Professor Pfeiffer haben sollten, da konnte ich nicht mehr aus dem Haus. Es war umstellt von Schaulustigen, die den Ausgang versperrten. Bald rückten auf einem offenen Lieferwagen Schlägertrupps mit großen Äxten an und begannen, alles kurz und klein zu schlagen. Die großen Schaufenster und das ganze Inventar der Geschäfte meiner Großeltern und meines Großonkels wurden zerstört und über den Splittern der Schaufenster wurden dann die Bettfedern von aufgeschlitzten Kopfkissen verstreut. Es war ein Bild des Grauens, das sich uns bot”.

Margot Seewi, Enkelin des Kaufhausbesitzers Isaak Heil und Großnichte seines Schwagers Ferdinand Neu, die beide in den heutigen Räumen der Commerzbank zwei Fachgeschäfte betrieben, hat vor sechs Jahren ihre Erinnerungen an diesen Tag niedergeschrieben und sie uns für den heutigen Gedenktag zur Verfügung gestellt.

„Nach dem 10. November ist man erwachsen geworden, auch wenn man noch ein Kind war”, meinte Frau Seewi kürzlich bei einem Telefongespräch und erinnerte sich noch gut der Situation an diesem Vormittag: „Während der ‚Aktion’ saßen meine Großmutter Recha Heil, meine Mutter Tilly Rapp, mein kleiner Bruder Ernst, damals zwei Jahre alt, und ich im Wohnzimmer und dachten, man würde das Haus in die Luft sprengen. Mein Großonkel Ferdinand Neu und seine Frau Hedwig saßen in ihrer Wohnung. Die übrigen, christlichen Hausbewohner waren offenbar gewarnt worden und hatten das Haus verlassen. Dann wurde es plötzlich ruhig, die SA-Truppe und die johlende Menge waren weiter gezogen zum nächsten jüdischen Geschäft an der Hauptstraße”.

Das nationalsozialistische Hetzblatt „Hakenkreuzbanner” (HB) nannte die Aktionen gegen jüdische Bürger und jüdische Geschäfte am 12. November 1938 in einem Kommentar von Friedrich Karl Haas den „ersten Teil der Vergeltungsmaßnahmen gegen die in Deutschland lebenden Juden, der in allen Schichten unseres Volkes tiefste Befriedigung hervorgerufen” habe. „Der gerechte Volkszorn, der am 10. November in spontaner Weise zum Ausbruch kam, hat den Weg frei gemacht für eine endgültige und kompromisslose Scheidung zwischen Deutschen und Juden”, kommentierte Haas die Ereignisse rund um die Zerstörung der Weinheimer Synagoge, über die das HB am Vortag unter der Überschrift berichtet hatte: „Da war ein Heulen und Zähneklappern. Man rückte dem jüdischen Pöbel auf den Pelz”.

Die „endgültige Scheidung” sah in den Familien Heil, Rapp und Neu so aus: Friedrich Rapp, im 1. Weltkrieg schwer verwundet und seit dem Tod seines Schwiegervaters Isaak Heil am 2. Oktober 1938 Geschäftsführer des Textilhauses Heil, kehrte nach wochenlanger Haft im Konzentrationslager Dachau kahlköpfig und als gebrochener Mann nach Weinheim zurück. Am 22. Oktober 1940 wurde er, zusammen mit Schwiegermutter, Ehefrau und Sohn nach Gurs deportiert.

Recha Heil erlag am 16. Dezember 1940 den unmenschlichen Bedingungen im Lager Gurs, Tochter Tilly (40) und Schwiegersohn Friedrich Rapp (54) wurden am 10. August 1942 nach Auschwitz weiter transportiert und dort ebenso ermordet wie Ferdinand (63) und Hedwig Neu (57), die Auschwitz zwei Tage später erreichten. Ernst Rapp, bei der Deportation am 22. Oktober 1940 vier Jahre alt, überlebte das Lager Gurs, weil Tilly und Friedrich Rapp ihr lebensgefährlich erkranktes Kind nicht einem weiteren Lagerwinter aussetzen wollten und es schweren Herzens 1941 der französischen Hilfsorganisation OSE übergeben hatten.

Zuvor schon hatten die Rapps ihrer Tochter Margot das Leben erhalten, als sie ihr, gegen ihren Willen, am Jahresende 1939 die Teilnahme an einem Kindertransport nach Palästina ermöglichten.

Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachrichten" vom 10.11.2007

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