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Stadtrat Sally Neu: ein jüdischer Sozialdemokrat

Seine Familie war über Generationen hinweg in Weinheim ansässig und im Ledergeschäft tätig

Mit der Emanzipation der badischen Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhielten die bisherigen Schutzjuden die bürgerlichen Rechte, sie wurden aber auch verpflichtet, deutsche Namen anzunehmen und ihre bisherigen Familiennamen fortan als Vornamen zu gebrauchen. In seiner "Geschichte von Lützelsachsen" (1965) hat Josef Fresin eine Liste der 1809 in der Gemeinde lebenden Juden veröffentlicht: mit ihren alten und neuen Familiennamen und ihren Berufen.

Mendel Abraham veränderte damals seinen Namen in Abraham Neu und aus Mandel Aron wurde Aron Neu. Die beiden Neus gaben ihren Beruf mit "Vieh und Schlachten" an. Bei Aron Neu dürfte es sich um den Besitzer der Lützelsachsener

Judenwirtschaft, des späteren "Stern", gehandelt haben. Ab 1833 mussten in den israelitischen Gemeinden Synagogenräte gewählt werden. Dazu wurden Listen der wahlberechtigten jüdischen Bürger erstellt, die seitdem in etwa Aufschluss geben über die Größe der israelitischen Gemeinden. Claudia Fischer hat sich in ihrem Beitrag zum Weinheimer Geschichtsblatt ("Geduldet, vertrieben, ermordet - Die Juden in Weinheim bis 1933") auch damit eingehend beschäftigt. 1876 waren in Weinheims israelitischer Gemeinde 20 Männer als wahlberechtigt eingetragen, darunter Aron Neu und Louis Neu. 1880 tauchte in der Wahlliste zum Weinheimer Synagogenrat erstmals der Name Abraham Neu auf. Abraham Neu, 1878 noch in der Lützelsachsener Wählerliste und wahrscheinlich kurz danach nach Weinheim umgezogen, betrieb (wir berichteten) zusammen mit seiner Frau Zerlina bis 1902 in der heutigen Fußgängerzone ein Spezialgeschäft für Kleiderstoffe. Neu war Kleidermacher und begründete die Tradition der Anzug- und Kleiderfertigung in eigener Werkstatt, die seine Tochter Recha und sein Schwiegersohn Isaak Heil, beide gelernte Kleidermacher, in ihrem eigenen Geschäft bis 1938 weiterführten.

Streit um Sally Neu

Trotz der Namensgleichheit waren die aus Lützelsachsen "eingewanderten" Neus nicht verwandt mit der Weinheimer Familie Neu, aus der der Lederkaufmann und Weinheimer SPD-Gemeinderat Sally Neu (1882-1961) stammte. Diese Familie Neu war seit Generationen im Häute- und Lederhandel tätig. Louis Neu (1846-1921) und Sara Neu (1854-1912), die Eltern von Sally Neu, wohnten in der unteren Hauptstraße, beim heutigen Standort des Rodensteinerbrunnens, Sally Neu und seine Familie in der Schulstraße. Zusammen mit seinem Bruder Max übernahm Sally Neu das Leder- und Häutegeschäft seines Vaters und das Lager gegenüber dem Schlachthof, er war Kriegsteilnehmer im 1. Weltkrieg und betätigte sich nach Kriegsende politisch in der SPD. Von 1919 bis 1922 gehörte Neu dem Bürgerausschuss an, am 1. April 1922 rückte er, zusammen mit Georg Peter Heckmann und Georg Rögner, in die SPD-Gemeinderatsfraktion nach, als die Gemeinderäte Georg Peter Müller, Ludwig Eschwey und Martin Böhler aus der SPD austraten. Das Nachrücken von Sally Neu löste einen in der Geschichte des Stadtparlaments einmaligen Vorgang aus: die der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) angehörenden Gemeinderäte Karl Zinkgräf und Friedrich Pfrang teilten Bürgermeister Josef Huegel mit, Gemeinderat Neu werde nachgesagt, er habe sich nach Kriegsende der verbotenen Aneignung von Heeresgut schuldig gemacht. "Im Interesse der Stadt und auch im Interesse des Ansehens der Stellung eines Gemeinderats" müsse "der Sachverhalt einwandfrei festgestellt werden". Bis dahin weigerten sich die beiden DNVP-Gemeinderäte, an den Ratssitzungen teilzunehmen.

"Klatsch und Gerede"

Sally Neu beantragte umgehend ein dienstpolizeiliches Verfahren gegen sich. Mit diesem Antrag beschäftigten sich Bezirksamt und Bezirksrat als Staatsaufsichtsbehörde, lehnten ihn aber als unbegründet ab. Oberamtmann Dr. Pfützner, der Leiter des Bezirksamtes Weinheim und Vorsitzende des Bezirksrats, stellte bei der Begründung dieser Entscheidung unmissverständlich fest: "Pflicht der Gemeinderäte Zinkgräf und Pfrang hätte es sein müssen, zum Beweis ihrer Behauptungen bezw. Verdächtigungen alsbald ausreichende und einwandfreie Beweise beizubringen, was nicht geschehen ist. Wenn man gegen einen politischen Gegner mit derartigen Mitteln operiert, muss man auch in der Lage sein, restlos den Beweis dafür anzutreten. Das Material, das die beiden Gemeinderäte gegen Neu besaßen, erwies sich aber von Anfang an als äußerst spärlich und dürftig. Die Dinge, die die beiden Gemeinderäte zur Sprache gebracht haben, bewegen sich auf dem Gebiete des Klatsches und Geredes, das weder im privaten, noch im öffentlichen Leben verwertet werden sollte, wenn es nicht bewiesen werden kann". Bei den Kommunalwahlen 1922 stand Sally Neu auf dem aussichtslosen Platz 46 der SPD-Liste, auf der damals Leonhard Seib, der spätere KPD-Stadtrat und Gewerkschaftssekretär, auf Platz 2 hinter Wilhelm Reinecke kandidierte und in den Bürgerausschuss gewählt wurde.

Spiegelbild der Nachkriegszeit

Das Verfahren verriet aber auch etwas über die chaotischen Verhältnisse nach dem Ende des 1. Weltkriegs und dem Ausbruch der Revolution, als Offiziere durchziehender Militärkolonnen Heeresgut verscheuerten, obwohl das streng verboten war. In dem Verfahren wurde aber auch deutlich, dass es zwischen den Arbeiter- und Soldatenräten, die damals zur Verwertung von Heeresgütern befugt schienen, interessierten Gemeinden und privaten Käufern durchaus zu Geschäften kam, über deren Berechtigung der Bezirksrat 1922 allerdings nicht mehr richten

wollte.

Vereint in Brasilien

Sally Neu und seine Frau Olga, geborene May, tauchten im Sommer 1937 in Frankfurt unter und emigrierten noch im gleichen Jahr nach Uruguay. Die Eltern Neu konnten dabei weder ihrer Tochter Hilda nach Südafrika folgen, noch ihrer Tochter Ellen und ihrem Sohn Erwin nach Brasilien. Erst spät fand die Familie in Porto Alegre wieder zusammen.

Von hier aus pflegte Sally Neu nach dem Ende des 2. Weltkriegs einen lebhaften Briefwechsel mit Simon Wiesenthal und dessen Dokumentationszentrum über das Schicksal der Juden und ihrer Verfolger. Sally Neu starb 1961, Olga Neu 1966. Erwin Neu nahm 1991 zusammen mit seiner Tochter Anneliese am 2. Weinheimer Heimattreffen ehemaliger jüdischer Mitbürger teil und berichtete in einer lebendig-bedrückenden Gesprächsrunde im

Werner-Heisenberg-Gymnasium interessierten Schülern aus seinem bewegten Leben.

Heinz Keller, erschienen in den "Weinheimer Nachrichten" vom 10.06.2006

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