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Auch das EK I bewahrte ihn nicht vor der Gaskammer in Auschwitz

Ludwig und Karolina Altstädter starben in Auschwitz, ihr Sohn Kurt überlebte und emigrierte nach Chile

Bei der heutigen Kreuzung am Dürreplatz begann einst das Großviertel, eines der acht Quartiere, in die das Stadtgebiet eingeteilt war. Es dehnte sich zwischen Hauptstraße und Grundelbachstrasse nach Norden aus bis zur Peterskirche und war das größte Bauernviertel Weinheims. Noch bis in unsere Zeit nannte man das Großviertel auch Vorstadt. In der Vorstadt waren Handwerk und Kleingewerbe zu Hause, hier wohnten und arbeiteten in meist niedrigen, selten mehrgeschossigen Häusern Bäcker und Metzger, Mehl- und Samenhändler, Schlosser und Schmiede und natürlich Bauern.

In der Vorstadt lebten die jüdischen Händler einträchtig mit ihren christlichen Nachbarn zusammen. Deshalb kommt es sicher nicht von ungefähr, dass die Hälfte der ersten zehn Stolpersteine in der Vorstadt verlegt wurden. In der Kühgass’, der heutigen Lindenstraße, erinnern sie an Louis, Henny und Regina Oppenheimer, in der früheren Rumpelgass’, der heutigen Tannenstraße, an Karolina und Ludwig Altstädter. Louis Oppenheimer betrieb einen Kohlenhandel, Ludwig Altstädter eine Mehl- und Getreidehandlung. Beides waren keine großen Geschäfte, aber sie ernährten die Familien.

Die nachbarlichen Bindungen endeten nicht am Tag der nationalsozialistischen Machtergreifung, aber sie wurden nach den Nürnberger Gesetzen vorsichtiger gelebt. Dennoch durften bis zum 10. November 1938, dem Tag der Zerstörung der Synagoge, die Nachbarn in der Tannenstraße an Sabbat schmunzelnd feststellen, dass niemand die frommen jüdischen Lieder so falsch singen konnte wie die Altstädters. Das änderte freilich nichts an der Wertschätzung und der allgemeinen Sympathie für die jüdischen Nachbarn. Schließlich hatte Ludwig Altstädter im 1. Weltkrieg „für Kaiser, Volk und Vaterland” gekämpft und war für seinen Mut und seine Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz 1.Klasse ausgezeichnet worden. Damit trug der kleine Weinheimer Jude dieselbe Auszeichnung wie Adolf Hitler, der österreichische Weltkriegs-Gefreite, der einmal sein Leben zerstören sollte.

Dass sich damalige Kinder wie der längst im Ruhestand lebende Bäckermeister Fritz Falter noch an diese Geschichten erinnern, ist ein Zeichen für das gutnachbarliche Zusammenleben, ein anderes ist Falters Erinnerung an den mutigen Einsatz seines Großvaters Wilhelm für die zunehmend bedrängten jüdischen Nachbarn. Die Bäckerei Falter war an der Einmündung der Tannenstraße in die Lindenstraße nicht nur eine tägliche Begegnungsstätte für die Menschen, die hier lebten, sondern während des 2. Weltkriegs, als die Männer eingezogen waren, für die Frauen auch ein Ort, wo sie Rat und Hilfe finden konnten. Bäckermeister Wilhelm Falter sah sich als ihr Beistand und deshalb war es für ihn auch selbstverständlich, seiner Nachbarin Elsa Sernatinger, geborene Oppenheimer, beizustehen, als sie in der Endphase des Krieges von der Gestapo bedrängt wurde, weil nun auch Juden verfolgt wurden, die bis dahin von einem christlichen Ehepartner geschützt werden konnten.

Karolina und Ludwig Altstädter waren zu dieser Zeit nicht mehr am Leben. Sie waren am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert und mit dem Transport vom 4. November 1942 nach Auschwitz in den Tod geschickt worden. Mit den Eltern war 1940 der zehnjährige Sohn Kurt Altstädter verhaftet und deportiert worden. Er hatte bis dahin die jüdische Schule in Heidelberg besucht, denn seit November 1938 war jüdischen Kindern die Teilnahme am Unterricht in deutschen Schulen nicht mehr erlaubt.

In Gurs überlebte die Familie Altstädter den ersten Lagerwinter, dem zwischen November 1940 und März 1941 über 1.000 Häftlinge zum Opfer fielen. Im Frühling 1941 besserten sich die Verhältnisse in dem riesigen Barackenlager etwas, ohne dass sie ihre schreckliche Unmenschlichkeit verloren. Der „Sécours suisse aux enfants”, die Quäker, die französische jüdische Kinderhilfsaktion OSE und das Französische Rote Kreuz brachten Hilfe und bessere Verpflegung. Dem inzwischen elfjährigen Kurt Altstädter wurde, wie anderen Kindern, der lebensrettende Wechsel aus dem Lager auf einen Bauernhof bei Aix-les-Bains ermöglicht. Bis 1943 arbeitete der Junge nahe der Grenze zur Schweiz, die er wohl, im Gegensatz zu vielen anderen Juden, irgendwann und irgendwo überwinden konnte, denn das Kriegsende erlebte Kurt Altstädter 1945 in Genf. Noch im gleichen Jahr wanderte er nach Chile aus. In der Hauptstadt Santiago baute er später einen Eisenbetrieb auf.

Zusammen mit seiner Frau Edith nahm Kurt Altstäder 1991 am zweiten Heimattreffen ehemaliger jüdischer Mitbürger in Weinheim teil. Zu seinen Erinnerungen an zwei Schuljahre in der Diesterwegschule gehörte ein „sehr strenger Lehrer”. Der Name Friedrich Obländer war ihm in den schicksalhaften Jahren verloren gegangen.

Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachrichten" vom 16.11.2006

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