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Abschied von der „Wulle-Wulle”

Aus der Geschichte eines Gebäudes, das immer zur Einkaufsstadt Weinheim gehörte

Auf dem Gelände des ehemaligen Café Krautinger, zwischen Tchibo und Müller-Markt, verändert sich derzeit das Gesicht der Fußgängerzone. Auch auf der gegenüber liegenden Straßenseite soll es nach dem Willen der Gemeinderatsmehrheit demnächst eine Veränderung geben: der Abbruch des Hauses Hauptstraße 79 soll Platz machen für eine Fußgängerverbindung zum künftigen Burgenviertel.

Das unscheinbare, immer etwas schlampig und baufällig wirkende, eingeschossige [?] Gebäude am Rande des Windeckgäßchens wird man im Stadtbild kaum vermissen, dennoch wird es vielen Weinheimern aus den unterschiedlichsten Gründen in Erinnerung bleiben. Hier hatte der Ur-Ur-Großvater der heutigen Windeck-Wirte Pflästerer eine Metzgerei. Er übergab sie seinem Sohn Carl, während der andere Sohn Heinrich eine eigene Metzgerei zwischen Engelapotheke und „Stadtschänke” begründete. 1928 gab Carl Pflästerer seine Metzgerei auf und „Wohlwert” hielt Einzug in dem zweigeschossigen [?] Gebäude.

„Wohlwert” war die deutsche Tochter der 1879 von Frank Winfield Woolworth gegründeten amerikanischen Handelskette, mit der Woolworth eine fast revolutionäre Idee im Einzelhandel verwirklichte. Bis dahin war es üblich, die Waren versteckt im Regal zu lagern und sie erst auf Kundenwunsch auszulegen. Außerdem gab es kaum festgelegte Preise. Woolworth änderte das: er präsentierte viele Artikel zum festen Preis von 5 Cent offen auf den Ladentischen und ermöglichte es dem Kunden, das Angebot zu überblicken, zu vergleichen und sogar anzufassen. Später wurde das Angebot um 10-Cent-Artikel erweitert.

Am 30. Juli 1927 wurde in Bremen das erste Kaufhaus von Woolworth in Deutschland eröffnet: mit festen Preisen von 25 und 50 Pfennig und öffentlicher Warenpräsentation. In Deutschland wurde Woolworth auch unter dem Spitznamen „Die Woole” (sprich: Wuhle) bekannt und deshalb sagten die Weinheimer zu ihrer Woolworth-Filiale „Wulle-Wulle”. Wegen seines zentralen Werbethemas Einheitspreis hieß das Kaufhaus aber auch „Ehp” oder „Ehape”. Die Odenwälder Kunden nannten es einfach „95-Pennisch-Lode”.

„Tausende Artikel des täglichen Bedarfs” (Werbetext) gab es im Weinheimer Wohlwert-Kaufhaus. Es wurde von Robert Lipsky geleitet, einem Juden. Von ihm ist nicht mehr bekannt als eine Notiz im „Hakenkreuzbanner”, der Mannheimer Parteizeitung. Sie berichtete am 31. Mai 1938, also noch vor der Pogromnacht, unter der Überschrift „Wir weinen ihm nicht nach”: „Das als Filiale in Weinheim betriebene jüdische Geschäft R. Lipsky (Wohlwert) geht am 1.6.1938 in arische Hände über. Wir freuen uns, dass wiederum ein jüdisches Geschäft verschwindet und glauben den Zeitpunkt absehen zu können, an dem unsere Hauptstraße gänzlich judenfrei ist”. Auch Robert Lipsky war ein Opfer der Zwangsarisierung jüdischer Geschäfte, von der an der Hauptstraße auch die Metzgerei Oppenheimer, die Lederhandlung Kassel & Marx, das Kaufhaus Geschwister Mayer, das Warenhaus Moritz Neu, die Textilwarengeschäfte Josef Wetterhahn und Isaak Heil sowie das Sattler- und Tapezierergeschäft Sigmund Brückmann betroffen waren (Stadtarchiv).

Auf die Wohlwert-Eröffnung bezog sich offensichtlich das 25-jährige Firmenjubiläum, das im „Haus für Alle” Barth & Beck 1954 gefeiert wurde. Bald danach änderte sich das Angebot in den Räumen auf unterschiedlichem Bodenniveau: mit dem Einzug des Eiscafé Capri entstand nicht nur eine Weinheimer Repräsentanz der allgemeinen deutschen Italien-Begeisterung, sondern auch eine Art Tanzpalast. Die Weinheimer Jugend nutzte das Angebot begeistert: man ging ins Capri tanzen. Als die Zeit der jugendlichen Tanzmuffel begann, wurden die Räume als Birkenmeier-Lager und danach von einem Verbrauchermarkt genutzt. Ein Geschenkhaus beschloss den Reigen unterschiedlicher Nutzungen in einem Gebäude, das nun zum Abbruch freigegeben ist.

Verfasser: Heinz Keller,

veröffentlicht in: "Weinheimer Nachrichten" vom 22.06.2006

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