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Jüdische Organisationen

Vielfältig waren jüdische Bürgerinnen und Bürger mit der fortschreitenden Emanzipation in jüdischen und nichtjüdischen Vereinen aktiv.

Schon seit 1848 bestand die Maier-Traut-Stiftung zur Unterstützung armer Israeliten. Sie war durch Daitge Traut, geb. Ullmann, der Ehefrau von Maier Traut begründet worden und mit einem Stiftungskapital von 1800 Mk. ausgestattet worden. 1891 waren 18.000 Mk. vorhanden, 1904 betrug das Stiftungsvermögen 1.795,23 Mk, 1913 1.813,39 Mk.

Der "Israelitische Krankenunterstützungsverein (Bikkur Cholim)" wurde 1868 gegründet. 1904 erweiterte sich der Zweck des Vereins, der sich nun "Israelitischer Krankenunterstützungs- und Sterbekassen-Verein zu Weinheim" nannte. 1913 hatte der Vereinszweck eine weitere Ergänzung erfahren. Er nannte sich nun "Israelitischer Frauenverein, Israelitischer Krankenunterstützungs- und Sterbekassenverein zu Weinheim".

Die israelitische Gemeinde hat 1908 170 Mitglieder, 1913 hat sich die Mitgliedszahl auf 190 erhöht. Bezirksrabbiner ist Dr. Hermann Pinkuss in Heidelberg. Lehrer und Kantor ist Marx Maier.

Der Gesangverein "Liederkranz" wurde 1888 gegründet, der Synagogenchorverein 1904.

Marx Maier gründete 1918 den heute noch bestehenden Kammermusikverein. Der Verein, der von zahlreichen Honoratioren der Stadt, darunter auch die Familien Hirsch und Freudenberg unterstützt wurde, veranstaltete weithin geachtete Konzerte mit bedeutenden Interpreten klassischer und zeitgenössischer Kammermusik. Einer der berühmtesten Besucher war der Komponist und Bratschist Hindemith. Besonders eng verbunden mit dem Kammermusikverein war die Pianistin Pauline Rothschild.

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Jüdische Vereine

Adressbuch 1900, S. 104:
Gesangverein „Liederkranz”
gegründet 1888, Vorstand Louis Oppenheimer

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Adressbuch 1900, S. 104
„Israelitischer Männer-Krankenunterstützungsverein”
gegründet 1892, Vorstand Wolf Lehmann

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Adressbuch 1904, S. 158:
Israelitischer Kranken-Unterstützungs- und Sterbe-Kassen-Verein zu Weinheim
Gegründet 1868
Zweck: a. Unterstützung der erkrankten Mitglieder, b. Bestimmungen der Leichenkosten beim Sterbefall eines Mitglieds
Verwaltungskommission: Rosa Lehmann, Guta Bär und Cerline Neu, Vorsteherinnen, sowie 2 Verwaltungsräte
Rechner: Wolf Lehmann, Johannisstraße 25
Mitgliederzahl: 22

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Adressbuch 1904, S. 160:
Synagogenchorverein
Gegründet 1904
Dirigent: Cantor Marx Maier
Vorstand: Nathan Weiler
Schriftführer: David Benjamin
Kassier: Karl David
Mitgliederzahl: 40

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Adressbuch 1908/09, S. 284:
Israelitischer Krankenunterstützungs- und Sterbekassen-Verein zu Weinheim
Gegründet 1868
Zweck des Vereins: a) Unterstützung der erkrankten Mitglieder, b) Bestimmungen der Leichenkosten beim Sterbefall eines Mitgliedes.
Verwaltungskommission: Rosa Lehmann und Cerline Neu, Vorsteherinnen, sowie 2 Verwaltungsräte
Kassierer: Wolf Lehmann, Johannisstr. 25.
Mitgliederzahl: 22

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Adressbuch 1908/09, S. 294:
Synagogenchorverein Weinheim
Gegründet 1904
Vereinslokal: Volksschulhaus I
Zweck des Vereins: Hebung und Pflege des Synagogengesangs
Vorstand: David Benjamin, Hauptstraße
Schriftführer: Emil Bloch
Kassierer: Louis Oppenheimer
Marx Maier, Kantor, Dirigent des Vereins und 2. Vorstand.
Vereinsdiener: Samuel Simon

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Adressbuch 1913, S. 92:
Israelitischer Frauenverein, israelitischer Krankenunterstützungs- und Sterbekassenverein zu Weinheim
Gegründet 1868
Vereinslokal: Altes Schulhaus
Zweck des Vereins: Unterstützung kranker Mitglieder und teilweise Zusteuer bei Sterbefällen resp. Beerdigungskosten
Vorstand: Bertha Heil, Bertha Bär und Frieda Müller
Schriftführer: Emil Bloch
Kassierer: Wolf Lehmann
Mitgliederzahl: 25

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Adressbuch 1922, S. 28
Israelitischer Frauenverein
1. Vorstand: Frau Max [Flora] Hirsch
2. Vorstand: Frau Hauptlehrer Berta Maier
Schriftführer: Hauptlehrer [Marx] Maier
Kassierer: D[avid] Benjamin
Gegründet 1868.

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Adressbuch 1922, S. 30:
Synagogenchorverein Weinheim
1. Vorstand: Dirigent Cantor [Marx] Maier
2. Vorstand, Schriftführer und Kassierer: Adolf Braun
Gegründet 1904.

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Adressbuch 1926/27, S. 62
Israelitischer Frauenverein
1. Vorstand: Frau Max [Flora] Hirsch
2. Vorstand: Frau Berta Maier
Schriftführer: Hauptlehrer [Marx] Maier
Kassierer: D[avid] Benjamin
Gegründet 1868.

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Adressbuch 1926/27, S. 64
Kammermusikverein Weinheim
Zweck des Vereins: Pflege der klassischen und zeitgenössischen Musik,
insbesondere der Kammermusik durch Veranstaltung hochwertiger Konzerte.
Die Geschäftsleitung liegt in den Händen des Herrn Hauptlehrer M[arx] Maier. Dem engeren Ausschuß gehören außer dem Geschäftsleiter u.a. folgende Herren an:
Freiherr von Berckheim, Direktor Dr. Braun, Kommerzienrat Dessauer, Otto Freudenberg, Professor Herzog, Julius Hirsch, Oberbürgermeister Huegel, Dr. Kauert, Professor Dr. Kaufmann, Dekan Koppert, Landrat Dr. Pfaff, Hugo Waldhelm und Frau Johanna Freudenberg.
Gegründet 1918.

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Adressbuch 1933, S. 55
Jüdischer Frauenbund
Vereinslokal: Gemeindesaal
1.Vorstand: Frau Betty Liebmann
2.Vorstand: Frau Betty Bloch Betty Blach
Schriftführer: Frau Felice Eckstein
Kassierer: Fräulein Pauline Rothschild
Gegründet 1927.

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Adressbuch 1933, S. 57
Kammermusikverein Weinheim
1.Vorstand: Otto Freudenberg
2.Vorstand und Geschäftsführer: C.G. Müller
Kassierer: Fa. S. Hirsch, Weinheim.
Gegründet 1918.
Zweck des Vereins: Pflege der klassischen und zeitgenössischen Musik,
insbesondere der Kammermusik durch Veranstaltung hochwertiger Konzerte.
Die Geschäftsleitung liegt in den Händen des Dipl. Ing. C.G. Müller. Dem engeren Ausschuß gehören außer dem Geschäftsleiter an:
Otto Freudenberg, Dir. Mangelsdorf, Oberbürgermeister Huegel, Hugo Waldhelm, Dir. Welß, Dir. Müller, Prof. Dr. Grüninger, Arthur Hirsch, Prof. Dr. Kaufmann, Landrat Dr. Pfaff, Pauline Rothschild.

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Adressbuch 1933, S. 58:
Synagogenverein Weinheim
Vereinslokal: Benderscher Saal, Hauptstr. 51
Vorstand : Adolf Braun, Hauptstr. 51
Leiterin: Frl. Pauline Rothschild, Hauptstr. 90
Gegr. 1903

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Jüdische Schule in Weinheim

von Helene Eggert

Jüdische Spuren in Weinheim verweisen auch auf die Geschichte jüdischer Lehrerbildung im 19. Jahrhundert.

Am 1. November 1860 eröffnete der neo-orthodoxe Rabbiner Dr. Hirsch Plato in Weinheim eine „Lehr- und Erziehungsanstalt für israelitische Knaben”, „trotz Anfeindungen und Vorurteilen vor ihrem Entstehen” (Der Israelit 1861), die ein Jahr später, am 6. November 1861, durch „eine Bildungsanstalt für israelitische Lehrer” erweitert wurde. Das Weinheimer Modell wurde nach 1864/1865 von ihm in Karlsruhe weitergeführt. Darauf aufbauend, förderte Dr. Plato die Modernisierung des jüdischen Schulwesens und damit die Professionalisierung jüdischer Lehrer, indem er ab 1867 in Düsseldorf, später in Köln, die ehrenamtliche Leitung eines anerkannten Lehrerseminars der modern-orthodoxen Religionsgemeinschaft Adass Jeschurun übernahm.

Die Spuren des jüdischen Pädagogen führen zu folgenden Fragen:

1. Wer war Dr. Hirsch Plato, was kann über seine Herkunft, seinen Lebensverlauf, über seine religionspädagogischen Aspirationen wie über seine säkularen Bildungskonzepte berichtet werden?

2. „Jüdische Schule in Weinheim”: Warum wurde die Stadt zunächst als Schulstandort für ein toratreues und zugleich weltoffenes Erziehungs- und Bildungsmodell gewählt?

ad 1: Wer war Hirsch Plato ?

Portraitfoto Hirsch PlatoDie biographischen Quellen sind spärlich. Wir finden den Namen ‚Hirsch Plato’ in verschiedenen Analysen der Geschichte der institutionalisierten und privaten Lehrerbildung in den jüdischen Religionsgemeinschaften. Offizielle Auskunft geben die „Große Jüdische Nationalbiographie” V. Bd., S. 49 f. und ein Nachruf zu seinem 1. Todestag in der Zeitung „Der Israelit” vom 16. März 1911.

Wenige Originalzeugnisse seiner Weinheimer Tätigkeit sind im Archiv der Stadt Weinheim aufbewahrt: Die Einladungsschriften aus den Jahren 1862 und 1863 für die öffentlichen Prüfungen „der Lehr- und Erziehungsanstalt für israelitische Knaben und der damit verbundenen Bildungsanstalt für israelitische Lehrer in Weinheim”, deren graphisches Layout den entsprechenden Drucksachen der damals am Ort dominierenden Bender’schen Erziehungsanstalt nahezu gleicht.

Zudem taucht 1861 anlässlich einer schulpolitischen Kontroverse in Weinheim der Name Dr. Plato in einer Streitschrift auf, in der Chr. E. Dürre Juden mit antisemitischen Beleidigungen diffamierte (vgl. Eggert, 2006, S. 205).

Dr. phil. Hirsch Plato wurde am 23. August 1822 in Halberstadt als einziger Sohn einer großen Gelehrtenfamilie geboren. Mit Moses Mendelssohn, dem jüdischen Philosophen der deutschen Aufklärung, konnte er auf einen gemeinsamen Ahnherrn zurückblicken, auf Moses Isserles aus Krakau, dem bedeutenden jüdisch-polnischen Philosophen des 16. Jahrhunderts (Wikipedia).

In seiner Geburtsstadt erhielt er in der Haschaarath Zewi Schule einen „weit über die Mittelmäßigkeit hinausgehenden, gediegenen Unterricht in den hebräischen und profanen Fächern”. Um seine Talmudstudien grundlegend fortsetzen zu können, wurde der hochbegabte Plato in Braunschweig einziger Schüler von Rabbi Sawel Eger, „der bedeutendsten rabbinischen Autorität seiner Zeit”. In der Gedankenarbeit einsamer Lehrjahre erwarb Plato umfassende Kenntnisse des talmudischen Wissens, die er im Lebensverlauf fortwährend vertiefend erweiterte. Seine praxisnahe Auslegung der Religionsgesetze (der „Halacha”) verschaffte ihm große Anerkennung unter seinen jüdischen Zeitgenossen. 1853 beendete er sein Studium in Jena.

1855 wurde er Lehrer an der neugegründeten Realschule der neo-orthodoxen Religionsgemeinschaft in Frankfurt am Main.

Napoleon mit den siegreichen Heeren der Französischen Revolution hatte am Anfang des 19.Jahrhunderts die Juden Europas aus ihren Gettos befreit. Im Emanzipationsprozess, auf der Suche nach der Definition einer aufgeklärten jüdischen Identität, zerfiel das deutschsprachige Judentum in unterschiedliche religiöse Strömungen: die Reformierten, die Neo- oder moderne Orthodoxie und die konservativ Orthodoxen. Während das Reformjudentum die jüdische Religion weitgehend in eine deutsche umzuwandeln versuchte, mit teilweise radikalen Tendenzen, wollten die Vertreter der fortschrittlichen Orthodoxie keine grundsätzliche Änderung ihrer religiösen Tradition.

Nach dem Vorbild von Moses Mendelssohn öffneten sie jedoch das traditionelle jüdische Denken der weltlichen Kultur der europäischen Aufklärung. Bewusst wählten sie den Weg der bürgerlichen Integration in das säkulare Staatsgefüge der christlichen Mehrheitsgesellschaft.

Der Frankfurter Schulgründer Samuel Raphael Hirsch (der spätere Schwiegervater von Hirsch Plato) wurde zum Begründer der modernen Orthodoxie. Er vereinigte streng traditionelles Judentum mit fortschrittlichen Erziehungs- und Bildungskonzepten nach den Prinzipien: „streng toratreu, patriotisch und tolerant”.

S. R. Hirsch studierte an der staatlichen Universität Bonn, um seine Berufschancen als Rabbiner zu verbessern. Damit verletzte er die Norm der traditionellen Orthodoxie, die einem zukünftigen Rabbiner das Studium an einer weltlichen Universität untersagte. Die grenzüberschreitende Handlung wurde zur Doppelstrategie der modernen Orthodoxie. Bei prinzipieller Anerkennung der Autorität der Religionsgesetze des Talmud, öffnete und individualisierte er das jüdische Denken für die Bewährung in der realen Lebenswelt des bürgerlichen Staates. Er forderte unter strenger Glaubenstreue die zeitgemäße Interpretation der Tora, unter grundsätzlicher Beachtung ihres höchsten Gebotes, der Menschenliebe, der Toleranz und Gerechtigkeit gegenüber anderen Gesinnungen.

Der von S.R. Hirsch so definierte religiöse Humanismus der Neo-Orthodoxie entließ die jüdische Kultur aus ihrer gesellschaftlichen Isolation, die dann im „Klima der Moderne des 19. Jahrhunderts” zahlreiche überragende Leistungen in der Wissenschaft, Kunst und Literatur hervorbrachte (Fritz Stern, 1981).

Gegen die Gefahr der zu weit gehenden Liberalisierung des religiösen Judentums holten 1851 reiche jüdische Frankfurter Familien, darunter die Familie Rothschild, Samuel Raphael Hirsch in ihre Stadt, um eine neo-orthodoxe Gemeinde zu gründen. Die ausdifferenzierten religiösen Strömungen führten zur Spaltung der jüdischen Stadtgemeinden. Mit der neo-orthodoxen Austrittsgemeinde Adass Jeschurun institutionalisierte S. R. Hirsch eine Real- und Talmudschule. Beide Einrichtungen existierten bis 1938.

Als 1855 Hirsch Plato mit den religiös-humanistischen Ideen der modernen Orthodoxie seine pädagogische Berufung gefunden hatte, war er einer der ersten Lehrer an der Realschule der israelitischen Religionsgemeinschaft. Mit seiner beruflichen Erfüllung erwartete ihn dort „das größte Glück seines Lebens”, die Ehe mit einer der Töchter des Schulgründers. In dieser Zeit trat er mit einer Arbeit über Macchiavellis religiöse und politische Gesinnung an die literarische Öffentlichkeit.

Im folgenden Lebensabschnitt gründete er dann 1860 in Weinheim die „Lehr- und Erziehungsanstalt für israelitische Knaben””; er „gliederte derselben unter namhaften finanziellen Opfern ein Lehrerseminar an, dessen Leistungen höchstes Lob fanden”.

Informationen über die Beweggründe zur Wahl der Stadt als Schulstandort, wie über die Lage der Schule im Ort, liegen nicht vor. Vermutet werden kann, dass die jüdischen Lehrer den guten Ruf der Bender’schen Erziehungsanstalt in Weinheim kannten, die insbesondere von den reichen Kaufmannshäusern der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main für die Erziehung ihrer Söhne bevorzugt gewählt wurde.

Denkbar wäre in diesem Kontext, die neo-orthodoxe Erziehungsanstalt in Weinheim als konkurrierendes Angebot für jüdische Schüler zu verstehen, mit dem Angebot des doppelten Bildungsziels der modernen Orthodoxie, streng toratreu und in weltlicher Verbundenheit, patriotisch und tolerant.

Zwischen 1860 und 1863 wurden in den Zeitschriften „Allgemeine Zeitung des Judentums” und ”Der Israelit” fünf Werbeanzeigen der Lehr- und Erziehungsanstalt des Dr. Plato in Weinheim veröffentlicht. Das wichtigste theoretische Blatt der traditionellen Orthodoxie, „Der Israelit”, hatte zwischen 1861 und 1911 zusätzlich drei umfangreiche Berichte publiziert, die nachfolgend unter „Jüdische Schulen in Weinheim” beschrieben werden.

Im Jahr 1865 jedoch wurde das Institut des Dr. Plato zum ersten Mal im Adressbuch der Stadt Karlsruhe unter der Adresse „Schützenstraße 21” erwähnt. Es fehlen Auskunft gebende Aufzeichnungen über den Ortswechsel innerhalb des liberalen Großherzogtums Baden, in dem ein Kirchenrat des christlichen Staates mit Sitz im Israelitischen Oberrat die Oberaufsicht über die weltlichen Fächer der jüdischen Schulen ausübte, ein erster Schritt zur Eingliederung der jüdischen Schul- und Lehrerbildung in das staatliche Schulsystem.

Nach dem Intermezzo in Karlsruhe folgte Hirsch Plato 1867 dem Ruf des Rabbiners Dr. Feilchenfeld nach Düsseldorf, der unter dem Dach der Religionsgemeinschaft Adass Jeschurun dort ein jüdisches Lehrerseminar mit angeschlossener Volksschule eingerichtet hatte. Eine großzügige private Stiftung ermöglichte den Umzug des Seminars nach Köln-Ehrenfeld, wie Düsseldorf eine Stadt in den westpreußischen Rheinprovinzen.

Denn inzwischen hatte der preußische Staat 1812 mit seinem Edikt zur Judenemanzipation zögerlich die Spuren der schulpolitischen Schritte Badens aufgenommen. Jüdische Bildung- und Erziehung waren bis zu dieser Zeit nicht anerkannte Privatsache der Religionsgemeinschaften. Sie wurde durch die staatliche Aufsicht legitimiert, jedoch nicht gleichberechtigt mit den christlichen Schulen.

Neben der Leitung des Seminars übernahm Dr. Plato ehrenamtlich das Amt des Rabbiners der Religionsgemeinschaft, das er 40 Jahre ohne Vergütung ausübte. In dieser Lebensphase erwarb sich Dr. Plato den Ruf eines bedeutenden Talmudgelehrten, durch die Veröffentlichung von drei ‚halachischen’ Werken, mit denen er erfolgreich in die Diskussionen der verbindlichen Regelinterpretation von zeitgemäßen religiös-liturgischen, rituellen sowie Alltagsreformen einwirkte.

1899 erkrankte Dr. Hirsch Plato. Er starb am 16. März 1910.

ad 2: Jüdische Schule in Weinheim

Einladungsschrift TitelseiteAuf die Frage, warum Dr. Plato, der an der Realschule der neo-orthodoxen jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main ausgebildete Lehrer, Weinheim als Standort für seine expandierende Schulgründung wählte, geben die verfügbaren Quellen keine unmittelbare Auskunft.

Die Frage nach den Beweggründen von Dr. Plato im Rat mit den großzügigen Spendern der Religionsgemeinschaft (als Beispiel: 1862 Baron W. C. v. Rothschild, Frankfurt, 1.000 Gulden) kann nur mit begründeten Annahmen hypothetisch beantwortet werden.

Ein liberales Klima sowie ein sehr frühes reformpädagogisches Vorbild können als reale Faktoren bestimmend gewirkt haben. Denn schon vor 1862, als im fortschrittlichen Großherzogtum Baden das „Gesetz über die bürgerliche Gleichstellung der Israeliten” erlassen wurde, soll unter der Weinheimer Bevölkerung eine tolerante Gesinnung vorherrschend gewesen sein, die unter dem Einfluss des aufgeklärten Weinheimer Bürgermeisters und Landtagsabgeordneten A. L. Grimm entstanden war.

Einladungsschrift zu der 1862 stattfindenden öffentlichen Prüfung der Lehr- und Erziehungs-Anstalt für israelitische Knaben und der damit verbundenen Bildungsanstalt für israelitische Lehrer in Weinheim

Gleichzeitig hatte der internationale Ruf der Bender’schen Erziehungsanstalt seinen Höhepunkt erreicht. Das pädagogisch fortschrittliche Institut muss dem jüdischen Teil des reichen Frankfurter Bürgertums bekannt gewesen sein, vertrauten doch die weltweit verzweigten Handelshäuser und Kaufmannsfamilien der Freien Reichsstadt ihre Söhne den modernen Erziehungsmethoden der „Pioniere der Reformpädagogik” in Weinheim an (Eggert 2006).

Zu dieser Zeit schickte die Mehrheit der fortschrittsgläubigen jüdischen Bürger ihre Kinder, „die intelligenten Schüler aus den gebildeten Ständen”, in christliche Schulen oder Internate, wenn diese eine dem Fortschritt der Wissenschaft, sowie dem gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel entsprechende Bildung und Erziehung bereit stellen konnten.

In diesem Zusammenhang handelte Plato im Sinne des „Frankfurter Prinzips” (vgl. Morgenstern 1995, S. 101 ff.) des deutschsprachigen toratreuen Judentums, formuliert von einem Nachfahren des S. R. Hirsch, das sinngemäß sagt, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts für die deutschen Juden der Anschluss an das allgemeine Geistes- und Kulturleben der Zeit als ein nahezu normativer Anspruch galt. Ebenso wollte die neo-orthodoxe Religionsgemeinschaft jedoch in diesem Prozess der bürgerlichen Integration die Autorität der jüdischen Religionsgesetze (Halacha) bewahren.

Unter dieser Perspektive kann die Gründung der israelitischen Lehr- und Erziehungsanstalt als ein um jüdische Schüler rivalisierend-werbendes Unternehmen am richtigen Ort verstanden werden, dessen pädagogische Strukturen jedoch offensichtlich generell von dem Konkurrenzvorbild Benderinstitut übernommen wurden: Auf der Ebene der religiös-sittlichen Einwirkungspädagogik, eine strukturelle Entsprechung der konkurrierenden Religionspädagogik, im Bereich der Unterrichtstheorie und -praxis Vorbild zugleich.

Die Bender’sche Anstalt war ein Privatinstitut der bürgerlich-nationalen Elitebildung unter einem protestantischen Erziehungsideal. Dr. Plato gründete ein Privatinstitut der bürgerlich-nationalen Elitebildung unter einem toratreuen Erziehungsideal. Sein leitender Gedanke bei der Gründung der beiden Anstalten, in seiner Doppelstruktur aus religiösem Ideal und pragmatischer Bildungstheorie, ist ein Beispiel des verpflichtenden Frankfurter Prinzips: „Den Zöglingen beider Anstalten eine möglichst umfassende Kenntnis des jüdisch-religiösen Schrifttums und eine dem gesellschaftlichen Bedürfnisse der Gegenwart entsprechende, gediegene bürgerliche und wissenschaftliche Ausbildung angedeihen zu lassen; sie mit den menschenfreundlichen Kulturbestrebungen dieses Jahrhunderts innigst zu befreunden und sie gleichzeitig in die uns vom höchsten Gesetzgeber der Menschheit angewiesene Lebensrichtung mit fester Hand zu führen.”

„Um das jüdische Publikum auf diese Anstalt aufmerksam zu machen”, berichteten die Zeitungen „Der Israelit”, die bei der öffentlichen Prüfung anwesend war, und „Jeschurun” am 26. Juni 1861 über die erstaunlichen Fortschritte der Schüler, nicht nur im Hebräischen, sondern auch in den Realien, Geschichte, Geographie, in Deutsch und Französisch. Sie lobten „die gänzliche Hingebung und Aufopferung des akademisch gebildeten Lehrpersonals” mit ihrem Direktor, die trotz der vorhandenen Vorurteile die Existenz der Anstalt gefestigt hatten.

Schon am 29. Januar 1861 hatte die „Allgemeine Zeitung für das Judentum” berichtet, dass am 1. November 1860 die Lehr- und Erziehungsanstalt in Weinheim unter der Leitung von Dr. Plato eröffnet wurde. Unterzeichner der Anzeige war Dr. Henlé, ein gebefreudiger Sponsor, für „das provisorische Komitee der Gesellschaft zur Unterhaltung des israelitischen Instituts in Weinheim”.

„Der Israelit” veröffentlichte am 30. April 1862 einen weiteren begeisterten Bericht über die öffentliche Prüfung in den beiden Anstalten zwischen dem 30. März und 3. April: „Sie fiel glänzend in allen Beziehungen, zur außerordentlichen Zufriedenheit der Eltern, Behörden und Lehrer aus.” Die Großherzogliche Regierung hatte 3 Prüfungskommissionen auf Staatskosten ernannt. Vorsitzende waren ein Oberkirchenrat und ein Oberrat aus Karlsruhe sowie ein Bezirksrabbiner aus Heidelberg. „Viele christliche, jüdische, hiesige und auswärtige Nobilität” waren als Beobachter anwesend. Mit der behördlichen Prüfungsteilnahme wurde die jüdische Erziehungs- und Bildungsanstalt im staatlichen Schulsystem institutionalisiert.

Den Inhalt der vorhandenen Einladungsschriften von 1862 und 1863 zur öffentlichen Prüfung der Lehr- und Erziehungsanstalt für israelitische Knaben und der damit verbundenen Bildungsanstalt für israelitische Lehrer veröffentlichte Dr. Plato werbewirksam in Kurzfassung, ohne die kritischen Punkte zu erwähnen, als Anzeigen im Zeitraum von 1861 bis 1863 in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums” und im Blatt „Der Israelit”.

Er informierte über die Eröffnung seiner Anstalten mit der Beschreibung der aufbauenden Klasseneinteilung bei stetig zunehmenden Schülerzahlen, mit einem jährlich verbesserten Katalog des differenzierten, modernen Lehrangebots, der großen Anzahl von Lehrern unterschiedlicher Konfessionen und der Möglichkeit zur schulpraktischen Ausbildung an der Anstaltsschule für die Seminaristen, die zu guten jüdischen Reallehrern ertüchtigt werden sollten.

Eine besondere Anzeige in „Der Israelit” informierte am 21. August 1861 über die qualitative Erweiterung des Instituts durch die vom Großherzoglichen Ministerium genehmigte Bildungsanstalt für israelitische Lehrer mit angeschlossenem Pensionat „am kommenden 1. Oktober”, verbunden mit dem Hinweis: „Die Anstalt steht auf dem Boden des traditionellen Judentums und erwartet von ihren Angehörigen einen jüdisch-religiösen Lebenswandel” (www.alemannia-judaica.de).

In den Werbetexten betonte er immer, dass eine Hausmutter für die körperliche Pflege der Zöglinge sorge. Für deren Anmeldung ist jedoch - außer Dr. Plato, Weinheim - keine detaillierte Adresse angezeigt.

Nach den Schülerlisten kamen die meisten Zöglinge des Dr. Plato aus der näheren und weiteren badischen Umgebung, aus Dörfern und Städten wie Karlsruhe und Mannheim. Es finden sich einige Namen aus Frankfurt, wenige aus Amsterdam und London.

Auch die Seminaristen waren vorwiegend aus Baden. Für ein Ausbildungsjahr hatten sie 180 Gulden zu bezahlen; waren sie „unbemittelt”, wurden die Alumnen spendenunterstützt unentgeltlich aufgenommen. Die Kosten für ein Internatsjahr betrugen 250 Gulden.

Die Herkunftsorte der Internatsschüler sowie die entsprechenden Wohnorte der großen Zahl von freigiebigen Spendern lassen auf eine über die Grenzen des Großherzogtums Baden hinausgehende Bedeutung der neo-orthodoxen Lehr- und Erziehungsanstalt des Dr. Plato in Weinheim schließen.

Bis heute ist nicht bekannt, in welchem Weinheimer Gebäude die Anstalten untergebracht waren. Die Internats- und Schulräume können nur ein Provisorium gewesen sein. Denn in der Schrift von 1863 berichtete Plato, dass er immer noch nicht „ein den gegenwärtigen Bedürfnissen entsprechendes Lokal” zum Erwerb finden konnte, wofür ihm „hochherzige Freunde aus Mannheim 3000 Gulden” zugesichert hatten.

In Weinheim war Dr. Plato erkennbar erfolglos beim Ankauf des „entsprechenden Lokals”. Der Umzug innerhalb des liberalen Großherzogtums nach Karlsruhe könnte eine verständliche Konsequenz aus dieser Abweisung gewesen sein.

Literatur:

  • Stern, Fritz: Die Bürde des Erfolgs, in: Juden in Preußen, Hrg. Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1981
  • Morgenstern, Matthias: Von Frankfurt nach Jerusalem, Isaac Breuer und die Geschichte des „Austrittsstreits”, Tübingen 1995
  • Eggert, Helene: Pioniere der Reformpädagogik. Die Bender’sche Erziehungsanstalt für Knaben in Weinheim an der Bergstraße (1829-1918), Frankfurt a. M. 2006